Bild für Beitrag: #07 Schreie in der Dunkelheit | Peter Brötzmanns Gespräche mit Gérard Rouy
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#07 Schreie in der Dunkelheit

Peter Brötzmanns Gespräche mit Gérard Rouy

Köln, 14.09.2014
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker

Brötzmann und Kowald nach einem Gig mit Tänzern in Brüssel. Als sie den Saal verlassen, erblicken sie draußen einen Spaßvogel auf einem Dreirad, einem schwedischen Vehikel, mit dem man früher Milch oder Brot transportierte. Der Typ auf dem Dreirad hat hinterm Sattel verstaut ein komplettes Schlagzeugset. Die Beiden finden‘s witzig und halten ihn an, man kommt ins Gespräch - ja, ich habe keinen Job, kein Geld, die übliche Story. Peter und Peter erzählen ihm ein bisschen von sich und laden ihn ein, nach Wuppertal zu kommen – da kannst du erstmal bleiben und dann seh’n wir mal. Sie steigen ins Auto und der verrückte Kerl radelt mit seinen Drums über Aachen die ganze Autobahn entlang. Natürlich verwehrt man ihm an der Grenze die Einreise, dennoch erreicht er - über allerlei kleine Schleichwege - mit seinem Dreirad und dem Schlagzeug am Ende Wuppertal. Dieser Typ auf dem Dreirad war Sven-Åke Johansson, dessen Musik auf mittlerweile über 100 Alben zu hören ist, die man fast nirgendwo hört. Auf Brötzmanns beiden ersten bahnbrechenden Platten „For Adolphe Sax“ und „Machine Gun“ (1967/68) ist der trommelnde Radfahrer mit dabei.

Vielleicht sollte man überhaupt erstmal den Film „Soldier of the Road“ über Brötzmann sehen, um sich ein Feeling für das jetzt erschienene Buch zu holen. Bernard Josse hat ihn – ohne jede Unterstützung – gedreht und der Fotograf und Autor Gérard Rouy führte die Interviews. Als der Film fertig war, gab’s noch so viel interessantes Gesprächsmaterial, dass Rouy und Brötzmann beschlossen, ein Buch daraus zu machen, das jetzt vorliegt: „We thought we could change the world“. Es enthält über 100 Seiten Interviews, 58 Fotografien sowie 18 Abbildungen von Bildern und Objekten des Wuppertaler Künstlers. Ein französischer Soziologe hat mal eine Studie über Interviews veröffentlicht und kam zu der Erkenntnis, dass gerade Jazzmusiker mit dieser Gesprächssituation am besten umgehen können (Claude Jaeglé, L’Interview. Artistes et intellectuels face aux journalistes, 2007). Hier hätte Jaeglé einen weiteren schlagenden Beweis für seine erstaunliche Beobachtung. Gérard Rouys Arbeiten kannte ich aus der großen Zeit von ‚Jazz Magazine‘, als Philippe Carles (Autor des Buches „Free Jazz – Black Power“, das es sogar als Fischer-Taschenbuch gab!) diese Zeitschrift redaktionell leitete. Diese Fotos waren immer ein Highlight und Rouy ein regelmäßiger Besucher der frühen Moers-Festivals, bei deren Gestaltung Brötzmann und Kowald maßgeblich involviert waren. Die Tatsache, dass das Buch auf englisch erscheint, hat wohl auch mit Brötzmanns hohem Bekanntheitsgrad in den USA, Japan und Osteuropa zu tun. Ich las diese Gespräche einmal und beim zweiten Mal unterstrich ich manchmal jeden zweiten Satz. Für diejenigen, die über das bisher Erreichte in Europas improvisierter Musik reflektieren wollen, und für junge Leute, die einen Einstieg darin suchen, ist es – mit seinem ganzen Erfahrungsreichtum – eine unentbehrliche Lektüre. Indirekt beantwortet es auf mannigfache Weise nichts weniger als die Frage: Wie wird man Künstler?

Brötzmann erzählt anfangs von seiner schweren Kindheit und der Tabula rasa-Situation nach dem 2. Weltkrieg. Von der Unmöglichkeit, mit dem streng preußischen Vater über die tragischen Vorfälle zu reden. Millionen von Toten – für was? Er rekapituliert, wie er schon sehr früh zur Selbsthilfe griff, den Weg in die Unabhängigkeit suchend, dem eigenen Instinkt folgend dieses Ziel nie wieder aus den Augen verlor. Die Straßengangs, die sich prügelten, seien eine gute Schule für das gewesen, was noch kommen sollte. Die musikalische Sozialisation von Dixieland über Swing und Bebop durchläuft er sehr rasch und nennt heute längst vergessene Musiker, denen er nachträglich Respekt und Bewunderung zollt. Mit dem jungen Tubaspieler Peter Kowald, den er überredet, zum Kontrabass zu wechseln, experimentieren sie in einem feuchtkalten Kellerloch hinter dem Wuppertaler Bahnhof. Immer, wenn ich durchfahre, muss ich an diesen Übungskeller denken. Man spürt, dass er ein sehr visueller Mensch ist. Und bei allem Pessimismus über die heutigen Zustände, die für den Avantgarde-Jazz noch nie so schwer waren, verliert er nie den Humor, die kritische Distanz, auch zu sich selbst, kurz: die Sicht auf das große Ganze.

Rasch verlassen die beiden Künstler in diesen Zwiegesprächen den bloß chronologischen Verlauf eines außergewöhnlichen Musiker- und Malerlebens. Vor allem Brötzmann schlägt immer wieder Schneisen in diesen Parcours und öffnet den Blick auf die Jetztzeit. Früher war nicht alles besser, ganz im Gegenteil. Allmählich dämmert einem, dass diese Leute praktisch aus dem Nichts heraus die wohl unpopulärste Kunstform geschaffen haben, die man sich denken kann. „In Germany, we were actually nowhere, after the war there was nothing.“ Becketts Forderung, ein Künstler müsse sich sein eigenes no man’s land schaffen, in die Tat umsetzend. Und ja, wie oft habe ich diesen Quatsch über all die Jahre gehört: Ich mag ja eigentlich alles an Musik, nur eins nicht – Free Jazz! Wunderbar, wie er den von Kowald einst geprägten und später widerrufenen Begriff vom „Kaputtspiel“ pariert: „I am of course the world champion of that.“ Ungefähr so blöd, als würde man in Bausch und Bogen die abstrakte Malerei ablehnen. Brötzmann erwähnt den Begriff Free Jazz auch überhaupt nicht mehr; stattdessen spricht er lieber von den vielen Zeppelinen auf seinen Bildern, von den Frauen in seinem Leben, und von seiner Bewunderung für Sidney Bechet, den er in Wuppertal zweimal live sehen konnte, sowie von Don Byas, Ben Webster oder dem frühen Ellington. Noch heute gehört offenbar seine größte musikalische Liebe dem Blues. Welch ein Erlebnis, als er Howlin’ Wolf einmal die riesige Pranke schütteln durfte!

Für mich waren Brötzmanns Auftritte in Moers Anfang der 70er Jahre immer das Größte; es konnte regnen wie verrückt, man hockte durchnässt im Matsch, aber nee, nach Hause fahren wir noch nicht, jetzt kommt er noch mit Han Bennink und Fred van Hove. Tatsächlich wurde man nie enttäuscht, das erste gewaltige Röhren aus seinem Baßsaxofon entschädigte für die ganze Warterei. Chris McGregor’s Brotherhood of Breath, Anthony Braxton, Art Ensemble of Chicago, Frank Wright’s Unit – wo kriegte man die sonst zu hören? Wie aus einem sehr guten Film ging man danach anders nach Hause und hörte fortan die ganze Musik anders. Brötzmann reflektiert über seine Herkunft und das spezifisch Deutsche seiner Musik. Die Arbeit mit Musikern aus anderen Ländern damals und jetzt. Die Kettenreaktionen und den zähen Aufbau eines Netzwerkes, das sich erst über Europa und später bis nach Chicago und Tokio spannte. Die beharrliche Suche nach dem eigenen Sound. Den wichtigen Einfluss der Bildenden Kunst. Die Entstehung der Free Music Production (FMP). Die Touren durch die DDR und das ganze Drumherum. Misha Mengelberg – „the intellectual brain of European improvised music, apart from Derek Bailey“. Sein Faible für große Schlagzeuger – von Han Bennink über Muhammad Ali bis Nasheet Waits. Plastisch erinnert er an 1968, als Cohn-Bendit in Frankfurt an der Uni ein Konzert von ihm absagen wollte, und an das dumpfe Unverständnis, mit dem deutsche Hippiestudenten seine Musik als elitär ablehnten, das seichte Zeug einer Joan Baez aber bejubelten. Die Arbeit auf der Bühne schildert er so: „On stage, you have to fight. Without a fight, just being friendly to each other, that doesn’t mean anything.” Das Ringen um Resultate und die Frustration, wenn mal nichts zusammenging. „Stupid as I am, I always tried to bring some order, some form, into the music.” Und ebenso wichtig: “…to keep the tension up”. Was mir sehr auffiel - bei zwei Gigs des nach über zehn Jahren Existenz aufgelösten Chicago Tentets in Moers und Straßburg -: wie Brötzmann immer wieder die Glut anfachen kann, damit das Feuer nie ausgeht, den Hochofen anblasend. Er spricht auch davon, wie er mit dem Trinken aufhörte, über seine Instrumentensammlung, und nicht zuletzt übers Alter und den Verlust der Freunde. Obwohl er mit vielen guten Musikern arbeiten konnte, habe er immer eine gewisse Distanz zu den meisten gehalten – Kollegen, keine Freunde. Die einmalige Gruppe Last Exit und ihre Vorstöße in ein damals herrschendes Vakuum. Für Brötzmann ging es nie um eine neue Doktrin oder Ästhetik, sondern um eine Bewegung. Dazu habe auch immer gehört, etwas zu zerstören, um Neues darauf aufzubauen. „I give some people some things they can’t find anywhere else.” Was die Verbindungen seines musikalischen mit dem malerischen Schaffen betrifft, hat er eine frappierend einfache Antwort parat: “I don’t make them, they are there. It’s the same person doing both sides.“ Beides – die einsame Arbeit im Atelier und die Gemeinsamkeit in den Gruppen – ergänzt sich, möglicherweise bis an den Punkt, den Rimbaud forderte, „le derèglements des senses“, das einen neuen Blick auf die Dinge möglich macht. Brötzmann sagt über seinen Ansatz: „Sometimes I see things that can be turned into something else.”

Peter Brötzmann, Conversations with Gérard Rouy, “We thought we could change the world”, Wolke Verlag 2014, ca. 195 S., zahlr. Abb., Paperback, 28.-

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